Ode an die Freude oder Entschuldigung, wo ist die Streumaschine?

Es ist 1:54 Uhr, vor dem Fenster zwitschert ein schlafgestörter Vogel, während hier drinnen Nacht zum Tag wird und ich mir eine Pause vom Wäsche falten gönne.

Hallo meine lieben Leser, schön, dass wir uns hier wieder treffen. Letzten Freitag habe ich Euch im Stich gelassen, was unverzeihlich, aber auch unvermeidbar war. Familienbesuch war da und wir hatten viel zu tun. Wir mussten zum Beispiel Farmarbeit verrichten…

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…und den Schnee genießen…

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Es schneite nämlich ganz gewaltig am Samstag. Während Ihr in Deutschland bereits tagelang in Schneemassen versunken seid, konnte Oslo nicht eine einzige Flocke bieten. Doch Donnerstag kam die Wende, Freitag kam der Schnee und Samstag wurden wir mit dem wunderschönsten Weihnachtswunderwetter belohnt.

Sonntag taute es dann.

Montag war fast alles weg.

Geblieben ist Eis. Und zwar überall.

Erinnert Ihr Euch an das Video „Radiatoren für Norwegen“? Vergesst es. Ich starte eine neue Aktion: Streumaschinen für Oslo!

DAS hätte mal Sinn.

Ich weiß, ich weiß, in Deutschland wird auch nicht immer überall gestreut und der Nachbar X vergisst mal Schnee zu schippen und Eis zu kratzen. Ja, ja, ja.

Ihr habt ja keine Ahnung!

Hier ist alles vereist. Ich habe ernsthaft überlegt, ob es nötig ist, das Haus zu verlassen und ob mir meine Knochen nicht wertvoller sind, als jede noch so wichtige Verabredung. Es ist mörderisch da draußen gewesen. Unvorstellbar, wieviel sich die Norweger bieten lassen. Ich war kurz davor einen Protestmarsch gegen vereiste Straßen und Wege ins Leben zu rufen.

Aber wer wäre schon gekommen? Ist ja viel zu glatt.

Glücklicherweise war die Stadt am 10. Dezember noch eisfrei. An diesem Montag erhielt die EU den Friendensnobelpreis. Ab 10h morgens berichtete NRK live, interviewte Politiker und Künstler (Jostein Gaarder war sehr sympathisch!), Rathausangestellte und Hofpersonal. Die Ankunft von Bundeskanzlerin Angela Merkel und der deutschen Delegation am Flughafen Gardermoen konnten wir live mit verfolgen und einen der drei offiziellen Preisträger, Martin Schulz, bei einer Veranstaltung der Kinderschutzorganisation „Redd Barna“ begeistert zu „We are the world“ mit den Armen schwenken sehen.

Überhaupt entwickelte sich der Präsident des Europäischen Parlaments zur Partykanone des Tages und es hat mich betrübt, dass er, im Gegensatz zu Barroso und van Rompuy, während der offiziellen Verleihung des Nobelpreises keine Rede halten durfte. (Wäre es nach mir gegangen, hätten sie Herrn Jagland nach zwei Minuten mithilfe eines Überfallkommandos vom Rednerpult entführen können und stattdessen den lustigen Martin rangelassen. Ich weiß nicht, wem die englische Aussprache von Komiteevorsitzendem Jagland peinlicher war: Königin Sonja oder mir. Gelitten haben wir beide.)

Die offizielle Feierstunde verlief davon abgesehen in schönster Harmonie.

Gut, ich musste umschalten, als François Hollande und Angela Merkel sich siegesbewusst dem applaudierenden Publikum zuwandten und damit die Lobhudelei auf Deutschland und Frankreich ihren Höhepunkt erreichte.

Sehr unangenehm.

Aber der Rest war schön. Feierlich. Bewegend. Würdevoll. Die Rede von Ratspräsident Herman van Rompuy ohne Konkurrenz.

Und abends waren wir dran! Der traditionelle Fackelzug zu Ehren der Preisträger war von den EU-kritischen Organisatoren gestrichen worden. Organisiert vom Oslo International Club, mehreren EU-freundlichen Parteien und Clubs fand er dann trotzdem statt. Ab 18.15 Uhr wanderte ein Lichterzug aus 2000 Europäern und Nicht-Europäern vom Hauptbahnhof Richtung Grand Hotel, wo die Ehrengäste und Preisträger traditionell übernachten.

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@MartinNiemann

Vor dem Hotel erwarteten wir, trotz eisiger Kälte, geduldig das Öffnen der Balkontüren und den Auftritt der Preisträger. Fast wären wir dabei ins deutsche Fernsehen gekommen: Eine Troika des NDR schritt auf uns zu, vorneweg ein kleiner, frierender Reporter, der uns auf Norwegisch um Auskunft bat. Wir seien Deutsche, erklärten wir begeistert, fipselig auf unsere 15 Minuten Ruhm. „Och nee, schon wieder Deutsche, nee, das haben wir schon.“ Sprach der Reporter und zog von dannen.

Ruhm…pah…eh völlig überbewertet.

Da öffneten sich die Balkontüren in der ersten Etage des Grand Hotels. Zum Jubel der Massen traten die drei offiziellen Preisträger auf den Balkon. So nah und so glücklich werden sich die EU-Spitzen und Teile des EU-Volkes nie wieder treffen. Vergessen waren unübersichtliche Verwaltungsapparate, unermessliche Finanzpakete und unverständliche Auslandseinsätze. Heute war ein Feiertag! Wir feierten den Frieden in Teilen Europas, wir feierten uns als Europäer, wir feierten Europa als unser Zuhause.

Pathetisch?

Ja, sicher.

Ehrlich?

Ja. Sicher.

Plötzlich erklangen die ersten Töne der „Ode an die Freude“ und bald schallte  ein textunsicherer, aber begeisterter „La-la“-Chor aus 2000 Kehlen, vom Balkon aus enthusiastisch dirigiert. Martin Schulz gab das Tempo vor, Herman van Rompuy postete ein Livebild via twitter und José Barroso strahlte wie ein Kind unter dem Christbaum. Was für ein Augenblick. Die paar norwegischen Gegendemonstranten gaben sich geschlagen und trollten sich von dannen.

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@https://twitter.com/euHvR

Nach knapp 10 Minuten war alles vorüber. Die EU-Spitze zog sich vom eisigen Abendwind zurück in die Wärme des Luxushotels und die 2000 Fackelträger wärmten sich mit einem Glühwein am nahen Weihnachtsmarkt oder machten sich auf den Weg nach Hause.

Es war ein tolles Erlebnis, meine lieben Leser, und ich habe bemerkt: Ich bin Europäerin. Ich bin stolz auf unseren Kontinent, der sich „von einem Kontinent des Kriegs zu einem Kontinent des Friedens“ entwickelt. Nicht ohne Probleme, Beschiss und Betrug, aber mit der richtigen Einstellung im Herzen. Neben all der Meckerei und Unzufriedenheit, gilt es doch wirklich einmal festzuhalten: Ein Krieg zwischen den alten Feinden Deutschland und Frankreich beispielsweise ist ein unvorstellbarer Akt. Die Freiheit in großen Teilen Europas erlaubt es mir, mich im Ausland niederzulassen, Arbeit und Wohnsitz zu finden. Unsere Kulturen und Traditionen vermischen sich immer mehr und bilden ein großes, gemeinsames europäisches Kulturgut. Das ist toll. Und die Miesepeter an ihren Stammtischen und an ihren Esstischen, die immer was zu meckern haben, sollen von mir aus weiter meckern. Das darf man in Europa nämlich auch: Meckern. Verdirbt mir trotzdem nicht die Freude.

Ich bin ein Fan von Europa. Jawoll.

Das war es schon wieder, meine lieben Leser. Mittlerweile ist es 2.47, der schlafgestörte Vogel scheint ein gemütliches Nest gefunden zu haben und das werde ich auch mal tun.

Der Blog und ich gehen jetzt in Weihnachtspause, aber nicht, ohne uns vorher bedankt zu haben: Bei Euch.  Toll, dass Ihr da seid! Für 2013 versprechen wir weitere Geschichten aus dem Norden, die Besteigung des Galdhøpiggen, eine Rundtour mit dem Wohnmobil im Sommer, weitere Eskapaden aus dem norwegischen Alltag und und und…

Ich wünsche Euch von ganzem Herzen Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr! Lasst es Euch gut gehen, besinnt Euch auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben und lacht mal wieder richtig laut.

Ha det bra,

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Ulrike

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Majorstuen singt: Let it snow oder Warum ist es im Erzgebirge soviel kälter?

Das hat es in diesem Blog auch noch nicht gegeben: Ich habe einen Artikel auf der Hälfte gestoppt, alles markiert und gelöscht. Geplant hatte ich einen Text über den klirrenden Winter hier in Oslo. Da momentan jedes Gespräch in der norwegischen Hauptstadt mit „Herregud, det er veldig kaldt!“ beginnt ist das ein legitimes Thema, dachte ich.  Doch dann sah ich den Wetterbericht für Deutschland, der von -17° Nachttemperatur im Erzgebirge berichtete und für weite Teile der Republik weiteren Schneefall ankündigt. WEITEREN Schneefall.

Schnee?

Haben wir nicht.

-17°?

Haben wir nicht.

Wovon also genau wollte ich erzählen???

Das kann doch aber nicht sein!!! Wir leben in NORWEGEN!!! Gut, ja, wir hatten in den letzten Tagen regelmäßig -16°. Ok, ich trage ein Doppelpaar Socken und noch weitere wollene, wärmende Schichten beim Rausgehen. Ja, ich muss aufgrund der zusätzlichen Kleidungsschicht immer 20 Minuten früher aufstehen, um pünktlich zu sein.

Aber wem erzähl ich das?

BEI EUCH LIEGT SCHNEE!

Hier ist der Frognerpark mit einer weißen Pseudoschicht überzogen. Irgendwo weiter oben in Oslo soll zwar mehr Schnee liegen, aber ich muss ganz ehrlich zugeben: Ich bin enttäuscht bisher! Schickt mir also Eure Schneebilder und Wintererlebnisse aus Deutschland ins fast schneefreie Majorstuen.

Lächerlich. Mal ehrlich.

Da haben es Blogger viel einfacher, die aus Südamerika stammen, aus Afrika oder Mexiko. DIE haben jetzt trotzallem etwas zu erzählen. DIE können Familie und Freunde mit haarsträubenden Geschichten über den Winter ( „¿Qué es WINTER?“) aus dem fernen Land am Rand der Arktik begeistern. Ich stelle wieder einmal fest: Norwegen und Deutschland sind sich einfach zu ähnlich. Nein, das ist falsch gesagt. OSLO und Deutschland sind sich ähnlich. Für die anderen Landesteile kann und will ich das nicht sagen, vermute aber, dass es zwischen Nord-Norwegen und Deutschland gravierende Unterschiede gibt.

Die haben da oben mehr Schnee!

Und kälter ist es auch!

Die tiefste, jemals gemessene Temperatur in Norwegen stammt aus der Finnmark. Im Januar 1886 wurden in Karasjok – 51,4° Grad gemessen. HA! Take that Erzgebirge! Nicht, dass ich irgendeine Form von Wettstreit starten will. Neeeeinnnnn. Aber ich hatte schon vor, Euch mit Geschichten aus dem klirrenden Winter Norwegens zu überraschen.

WIE SOLL DAS GEHEN, WENN IHR NICHT MITMACHT???

Ehrlich. Nun haltet Euch mal zurück.

Besonders Ihr da im Erzgebirge.

Wo war ich?

Ähnlichkeiten, genau.

Hier ein paar aktuelle Dinge, die ähnlich sind zwischen Norwegen und Deutschland (um weitere wird in den Kommentaren gebeten!):

  • Adventskranz
  • Adventskalender
  • Marzipan
  • Weihnachtsmarkt
  • Rotkohl (den gab es in Frankreich beispielsweise im Regal für „Ethnic Food“)
  • Sprache (manchmal wirkt Norwegisch wie ein deutscher Dialekt, was sind beispielsweise „Strømpebukse“?)

Es sind nur Kleinigkeiten, aber sie wecken in mir das Gefühl von Heimat, das ich noch in keinem anderen Land so schnell verspürt habe. Und doch finden sich überall kleine, feine Unterschiede:

  1. Der norwegische Adventskranz wird bevorzugt mit lila Kerzen bestückt. Das ist keine farbliche Modeerscheinung: Ähnlich wie die Fastenzeit vor Ostern, gilt der Advent als Vorbereitungs-, Umkehr- und Bußzeit (beim Blick in den Supermarkt mag das allerdings niemand glauben). Die Menschen bereiten sich auf das Weihnachtsfest vor. Eine derartige Zeit im Jahr wird in den Kirche durch die liturgische Farbe Lila dargestellt. Voilá: Lila Kerzen auf dem Adventskranz.
  2. Marzipan. Wo die deutschen Schleckermäuler Marzipankartoffeln und Marzipanbrote schlemmen, gibt es in Norwegen eine ganz wichtige Marzipanfigur: Das Julegris. Ein kleines, aus Marzipan gefertigtes Schwein, das derjenige als Trophäe bekommt, der die Mandel im Weihnachtsmilchbrei findet.
  3. Weihnachtsmarkt in Oslo. Ich sage nur: Komplett Alkoholfrei.
  4. Sprache.     Von „Strømpebukse“ auf Strumpfhose zu kommen, in „Julemarked“ den „Weihnachtsmarkt“ zu erkennen oder von „Herregud“ auf „Herrgott“ zu übersetzen, ist möglich. Was aber sind „skøyte“, „lue“ oder „vinterdekk“? Und warum spricht meine Bekannte „votter“, wie „vanter“ aus und lässt mich ratlos stehen, obwohl ich das Wort „votter“ verstehe? Und wie ist es möglich, dass die Bedienung im „Jacobs Aall“ gestern sofort auf Englisch umstellt, nachdem ich magere zwei Worte gesagt hatte? Fragen über Fragen.

So findet sich überall in der Stadt Bekanntes und Vertrautes, Neues und Ungewohntes. Aber das macht das Leben im Ausland jeden Tag spannend.

So, wo ist jetzt der SCHNEE?????

Nachdem seit Wochen die satirische Hilfsaktion der norwegischen Studentengruppe SAIH „Radiatoren für Norwegen“ das Internet amüsiert,

http://www.youtube.com/watch?v=oJLqyuxm96k

bitte ICH nun um Schneespenden. Schnee für Norwegen klingt wie Eulen nach Athen tragen. Seltsame Welt.

Das war es schon für heute, meine lieben glorreichen Sieben im Schnee! Das Wochenende lockt mit einer „Extravaganza Weihnachtsfeier“, einer Keller-Entrümpelungsaktion (unglaublich, was sich in 8 Monaten ansammelt), einer langen (und hoffentlich erfolgreichen) Schreibsitzung für die ersten Szenen zum Theaterabend „Grimm Reloaded“ oder „Grimm 2013“ und einem hoffentlich sonnigen Spaziergang! Meine wöchentlichen Grüße gehen heute an meinen wunderbaren „partner in crime and love“ Martin, der letzte Woche befördert wurde, was mich ganz stolz macht. Well done, you!

Ich wünsche Euch allen eine wunderbare Woche mit Tannenduft und Lebkuchen, Schlitten fahren und Schneeballschlacht, warmen Füßen und Kaminfeuer. Genießt die Zeit, kommt mal zur Ruhe und lasst Euch das Marzipanbrot schmecken.

Ha det bra,

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(Nikolauspaket meiner wunderbaren „Mutta“, noch ein Stück Heimat, das in die Fremde kam)

Ulrike