Manchmal wünsche ich mir, meinen Charakter wie einen alten Mantel ausziehen zu können. Oder unnütze Teile kurz deaktivieren zu können. Aber trotz aller technischen Fortschritte ist das leider (noch?) nicht möglich. Also stand ich gestern, charaktertreu, im Astrup Fearnley Museum in Oslo vor einer Kuh in Formaldehyd und war geschockt.
Hallo, meine lieben Leser, wie schön, dass wir uns hier wieder treffen. Diesmal meine ich das mit noch mehr Enthusiasmus als gewöhnlich: Ich habe die ganze Woche Texte über Provinzen in Kanada geschrieben und heute zum ersten Mal das Gefühl, ein bisschen loslassen zu können. Einfach mal drauflos zu rabbeln und nicht auf jede Formulierung achten zu müssen. Schön ist das! Da kann ich einfach mal so kuckiduckiloresdoressabbelbrabbeltitt schreiben und niemanden stört es!
Ach doch, wirklich?
Dann lies die Kolumne im STERN, da passiert sowas nicht!
Ehrlich mal…manche Leute…*grins*
Ich war also im Museum, meine lieben in 7er-Gruppen-Wochenend-bereiten-Leser. Im Neubau des Astrup Fearnley Museum in Tjuvholmen in Oslo, einem architektonisch wunderschönen Gebäude mit riesigen Glasfronten direkt am Oslofjord.
Innen ist alles hell und hoch und das Verhältnis zwischen Raum und Ausstellungsstücken ist in wunderbarer Balance.
Da stand ich also inmitten einer Gruppe lustiger Norwegerinnen und nahm die ersten Eindrücke auf. Ich bin ein Fan moderner Kunst, aber auch völlig ahnungslos. Ich lasse mich gern von verrückten Ideen unterhalten, von ungewöhnlichen Techniken überraschen und je witziger ein Kunstwerk ist, umso angetaner bin ich. Mein Blick fiel auf eine riesige Leinwand, die mit pastellfarbenen Streifen und Klecksen überzogen war.
Tolle Farben, dachte ich und trat näher ran. „Don’t judge a book by its cover“ lautete der Titel (grob übersetzt: Lass dich nicht von Äußerlichkeiten beeindrucken) und gerade als ich das frühlingshafte Kunstwerk betrachtete und mich fragte, was wohl mit diesem Titel gemeint ist, ertönte neben mir: „Tyggegummi!“ Ich blickte zum Boden, um nicht auch aus Versehen in das Kaugummi zu treten, von dem meine Nachbarin angewidert berichtete. Sie blickte allerdings nicht nach unten. Sie starrte das frühlingsfarbene Kunstwerk vor mir an. „Don’t judge a book….“ Das fröhliche Frühlingskunstwerk verwandelte sich in eine bakterienüberladene Gesundheitsgefährdung als mir klar wurde, dass die rosa, gelb und lindgrünen Farbspritzer in Wahrheit durchgekautes Kaugummi waren. Wie lange, um Himmels Willen, hat hier jemand Kaugummi gekaut? Hatte der Künstler, Dan Colen, dafür Assistenten? Ich war sprachlos und trat erst mal einen Schritt zurück.
Und musste grinsen.
So mag ich das.
Das nächste Bild von Dan Colen, „Miracle on 34th street“, betrachtete ich also schon mit einem gewissen spaßigen Misstrauen. Eine große Leinwand mit braun-oliv-schwarz-weißen Farbspritzern.
Ehrlich gesagt: Es wirkte wie eine riesige Ladung Vogelmist.
Ich überprüfte die Materialangaben, aber zu meiner Erleichterung bestand das Gemälde wirklich nur aus Farbe. Trotzallem beschloss ich, dass meine Verbindung von Vogelmist als Wunder der 34. Straße richtig war. Überprüfen konnte ich meine Vermutung nicht, denn das technik-verliebte Norwegen gestattete nur Besitzern von Smartphones das Nutzen der Audio-Führungen.
Dann eben nicht.
Ich könnte es mal schnell googlen. Also jetzt hier, in Livezeit am Schreibtisch.
Moment.
Jawoll. Bingo.
“While his large paintings may resemble abstract expressionistic paintings, representing the hey-day of American modernism, they are, in reality, portrayals of bird shit, “action paintings” made from chewing gum with all its connotations of artificiality, carelessness and purposelessness.” (http://afmuseet.no/en/samlingen/kunstnere/c/dan-colen/miracle-on-34th-street)
Besonders die Worte “portrayals of” beruhigen mich jetzt irgendwie. Nur porträtiert ist der Vogeldünger. Irgendwo hat ja auch jeder seiner Grenzen.
Weiter geht die Reise vorbei an Richard Prince, einer unangenehm realistisch wirkenden Statue von Frank Benson hin zu der Frage von Gilbert and George: „War Jesus heterosexuell?“ und der heiteren Aufforderung: „God loves fucking. Enjoy!“
Auf der oberen Etage erwartet mich nicht nur ein Blick auf den Fjord und ein unglaublich kompliziert wirkendes Kunstwerk von Tom Sachs mit dem Titel „London Calling“ sondern ein weiterer Blick in die Prioritäten der ausgestellten Kunst, die mit so fröhlichen Begriffen wie „violated, tortured, mutilated, sodomized…“ die ganze Bandbreite körperlicher Misshandlungen abdecken. Liegt das nur an mir oder gibt es hier keine Schönheit? Schönheit im klassischen, konservativen, gute-Stimmung-verbreitenden Sinne? Natürlich gibt es Schönheit im Hässlichen und viele der Kunstwerke imponieren durch genau diesen Gegensatz, aber gibt es denn niemanden..niemanden…der schön als schön darstellt? Das frage ich mich und betrachte die dreckigen Waschbecken vor mir, deren Titel „Venezianische Brunnen“ mir rätselhaft bleibt.
Trotz aller Kritik: Ich habe Spaß. Aber wo ist denn nun dieses Kunstwerk mit der Kuh, von dem alle erzählen? Das, das ich Euch letzte Woche angekündigt hatte, erinnert Ihr Euch?
Aha, im zweiten Gebäude. Kurzer Weg über eine kleine Brücke und ein schneller Blick zum Fjord, auf dem Eisstücke schwimmen und Möwen sich faul treiben lassen und hinein in die Welt von Damien Hirst.
Manchmal wünsche ich mir, nicht nur meinen Charakter ablegen zu können, sondern auch meine Faulheit in den Griff zu bekommen, die mich davon abgehalten hatte, mich vor dem Museumsbesuch genauer zu informieren. Über Damien Hirst beispielsweise. Den britischen Multimillionär, dessen Kunstwerke seit den 1990er Jahren die Kunstszene im Königreich schocken und den Begriff „BritArt“ etabliert haben.
Und der es für Kunst hält, eine Kuh und ihr Kalb der Länge nach aufzuschneiden, in Formaldehyd zu packen und das Ganze „Mutter und Kind, getrennt“ zu nennen.
(Davon möchtet Ihr ein Foto? Dann müsst Ihr googlen. Ich setze es hier nicht rein. PROTEST!)
Ich war angewidert und entsetzt und, meinem Charakter entsprechend, nicht gerade schweigsam über meine Empfindungen. Schade eigentlich. Manchmal wäre ich wirklich gern so cool und abgebrüht wie die Besucher um mich herum, die sich nicht im Geringsten von den Tierleichen stören ließen. Die sich volllullen ließen von den Ausführungen über die bildgewaltige Kunst des Briten, der neben den beiden Kühen auch Schafe gekreuzigt und Haie eingelegt hat.
Im Gegensatz zu meiner Ankündigung war es also NICHT spaßig, durch die aufgeschnittenen Hälften einer ehemals lebendigen Kuh zu gehen.
Was natürlich nicht die Schuld von Damien Hirst ist.
Sondern meine.
Ich kann halt nicht gegen meinen Charakter.
*räusper*
Adrenalingeladen ging ich durch den Rest der Ausstellung, ließ mich aufheitern von Jeff Koons „Michael Jackson with Bubbles“,
betrachtete Fotos deutscher Künstler wie Thomas Struth und Andreas Gunsky, ignorierte ein weiteres Kunstwerk von Damien Hirst und beendete meinen Museumstag, ohne den Souvenir-Shop betreten zu haben.
Das will etwas heißen.
Das ist nämlich ganz uncharakteristisch für mich.
Das war es schon für heute, meine lieben Leser. Besucht das Astrup Fearnley Museum und schafft Euch einen eigenen Eindruck. Oder besucht einfach mal wieder ein anderes Museum in Eurer Nähe und lasst Euch von Schönheit oder Hässlichkeit, von Mut oder Dummheit, von Ideen oder Stereotypen unterhalten.
Oder aufregen.
Kommt auf Euren Charakter an.
Der Schnee in Majorstuen ist langsam auf dem Rückmarsch und ich bilde mir ein, mehr und mehr Vogelstimmen zu hören. Vor meinem Fenster hängt ein Meisenknödel, der tatsächlich eine benachbarte Meise angelockt hat, die mir regelmäßig den Vormittag verschönt. Dieses Wochenende wird ruhig und das ist auch gut so, noch ist die Grippe/Erkältung nicht ganz aus meinen Knochen, während es bei Martin gerade erst loszugehen scheint. Warten wir mal ab.
Ich wünsche Euch allen eine schöne und gesunde Woche, überprüft mal wieder Euren Charakter, lasst Euch in fremde (Kunst-)Welten treiben und seid albern. Einfach mal so. Meine Grüße gehen diese Woche an Freund Chris in Hildesheim mitsamt einem dicken TOI TOI TOI für den neuen Job!
Ha det bra,
Ulrike