
La Bohème, Mimi (Marita Solberg) Foto: Erik Berg
Aha, es lag also doch an mir. Nachdem ich zwei ausführliche Interviews und eine Kritik gelesen habe, scheint festzustehen: Ich bin zu dumm. Das ist eine wichtige Einsicht. Eine, die ich mir vielleicht nicht gerade nach einem Opernbesuch gewünscht hätte.
Hallo, meine lieben Leser, schön, dass wir uns treffen. Der Winter schleicht sich davon, der Frühling macht sich weit entfernt auf den Weg und in Oslo befinden wir uns gerade in einem grauen Zwischenstadium, das täglich Fernweh weckt. Fernweh hatte ich auch gestern Abend – ich wünschte mich fern von meinem Platz im Parkett der Nationaloper, von dem aus ich Stefan Herheims Interpretation von Puccinis La Bohème ertragen musste.
Der Inhalt ganz grob: Paris, 19. Jahrhundert. In der ärmlichen, aber kreativen und weinlastigen Welt der Bohemiens trifft Rodolfo auf seine Nachbarin Mimi. Sie verlieben sich ineinander, doch Mimi ist krank. Rodolfo ist bald nicht mehr in der Lage, sie zu pflegen, das Paar trennt sich im Streit. Als die beiden sich nach Monaten wieder sehen, ist jede Rettung zu spät. Während Rodolfo auf den angekündigten Arzt hofft, stirbt Mimi und Rodolfo wirft sich verzweifelt über ihren toten Körper.
So weit, so herzzerreißend.
Es geht also um den Tod eines geliebten Menschen. Ein zeitloses Thema. Nur die Krankheit der Mimi, Schwindsucht oder Tuberkulose, scheint veraltet (obwohl daran auch heute noch Millionen von Menschen jährlich sterben). Stefan Herheim kommt samt Team auf eine Idee, wie sich das Publikum des 21. Jahrhunderts mehr mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts identifizieren kann:
Aus Mimis Schwindsucht wird Krebs.
Eureka!
Und weil Krebspatienten praktischerweise ihre Haare verlieren, werden Hauptdarstellerin, Opernchor und Kinderchor unter Aufbietung aller Maskenbildnerkräfte mit Glatzen versehen, können sich so im geeigneten Moment die Perücken vom Kopf ziehen und, nach Identifikation mit dem Publikum suchend, kahlköpfig in den Saal singen.
Eureka!
Unterstützt wird der geschmacklose 21. Jahrhundert-Identifikationsversuch von einem monumentalen und teilweise überraschenden Bühnenbild (Heike Scheele), dessen steriler Krankenhausraum mit piependem EKG den Abend eröffnet. Die in La Bohème fehlende Ouvertüre wird durch eine schier unendliche Wiederholung von Herztönen ersetzt, die dazu noch in Übergröße an die Kulissenwand projiziert werden. Große Überraschung, als sie plötzlich enden…gähn….
Und dann beginnt die Verwirrung.
Ich springe ratlos zwischen Textuntertiteln und Bühnengeschehen hin und her – nichts passt zusammen. Marcello, der in der Originalfassung an einem Gemälde namens Das rote Meer arbeitet, wischt bei Herheim mit einem Feudel den roten Linoleumfußboden des Krankenzimmers, während er davon singt, einen Pharao ertrinken zu lassen. Rodolfo, schockiert und mit versteinertem Blick auf den toten Körper der Mimi starrend, antwortet, er sähe den Rauch aus Tausenden von Pariser Schornsteinen aufsteigen, während die Krankenschwester/ Musetta an der toten Mimi eine Herzmassage absolviert, die ein Mammut gekillt hätte. Libretto und Inszenierung scheinen meilenweit voneinander entfernt zu sein.
Ich schwöre: Ich habe mich bemüht! Immerhin ist das eine Inszenierung von Stefan Herheim: Gefeierter Norweger, Opernregisseur der Jahre 2007, 2008 und 2010, Träger des heiligen Bayreuth-Grals dank seiner – vom Publikum einheitlich – bejubelten Parsifal-Inszenierung von 2008 und beschäftigt an unzähligen Opernhäusern (Premiere im März 2014: Händels Xerxes an der Komischen Oper Berlin). Es muss ein Konzept hinter La Bohème stecken, dazu noch ein intelligentes, ich muss es nur finden.
In den folgenden Szenen springt die Aufführung zwischen Krankenhauszimmer des 21. Jahrhunderts und Rodolfos Dachwohnung im Paris des 19. Jahrhunderts hin und her, die beiden Räume bedingen einander, verschwimmen ohne ersichtlichen Grund. Rodolfo kommt mit Mimis Tod nicht zurecht, schlussfolgere ich, Gegenwart und Erinnerung verwischen in seinem – und damit leider auch in meinem – Geiste. Der Text passt in den seltensten Fällen zur Handlung, und wenn, dann in lächerlicher Weise: Musetta beginnt im Pariser Café einen Streit mit ihrem Ex Marcello, die Szene geht dann (warum auch immer) über in das Krankenhauszimmer und dort ergreift Musetta die Krankenakte, beschreibt sie, dem Libretto folgend, als ihre „Visitenkarte“ und legt sie aufs Krankenbett.
Höhepunkt dieses unendlich wirkenden Abends ist die kollektive Perückenabnahme der beiden Chöre, die erst Haar und Haarschleifen über den kahlen Köpfen schwenken und sich dann in eine Zombiegruppe verwandeln, die dem Film Shaun of the Dead alle Ehre machen würde.
Ich bin wütend, Martin ist wütend, der Mann rechts neben mir ist wütend und zischt in seinen Schnauzbart.
„STOP!“ höre ich Euch rufen. „Es kann nicht so schlimm gewesen sein, immerhin ist da noch die Musik!“
Ja, die Musik. – Die hatte keine Chance. Jeder kundige Musikkritiker möge mir meine Anmaßung verzeihen, über eine Opernaufführung zu schreiben, aber wo ich schon mal angefangen habe… Der ausgebildete Cellist Herheim fand die Musik als Beiwerk ganz interessant, ließ ihr aber, bis auf ein paar Ausnahmen, keine Luft zum Atmen. Ich, der Zuschauer, bin so abgelenkt von Krankenhauszimmern, Videoinstallationen, Kostümwechseln und Kahlköpfen, dass die Musik in den Hintergrund rutscht. Die Inszenierung unterstützt, fördert oder ehrt sie nicht, und die Sänger scheinen vom Geschehen auf der Bühne wie geknebelt. Besser kann ich es nicht beschreiben: Die Musik ist im Weg.
Endlich Pause.
Im Foyer ratlose, wütende, amüsierte und gleichgültige Zuschauer.
Martin und ich erschöpft auf einer Bank.
Nach einer längeren Diskussion entscheiden wir uns zu gehen.
Ich kann Euch also nicht berichten, was im zweiten Teil und den verbleibenden 90 Minuten auf der Bühne vor sich ging. Ich verlasse Vorstellungen ganz selten – erst ein Mal direkt während des Geschehens, nur zwei oder drei Mal in der Pause. Hauptsächlich, weil ich es den Künstlern gegenüber unhöflich finde, außerdem ungern aufgebe und schließlich kostet das Ganze auch Geld und im Fall von La Bohème nicht wenig. Dabei bin ich großer Fan von modernen Inszenierungen: Weg mit dem Staub jahrzehntelanger Imitationen, hin zur Aktualität und gerne darf es auch mal schräg sein, wie die wunderbare Nora-Inszenierung von Herbert Fritsch. Hier, jetzt und heute, komme ich mir vor wie das Opfer eines Regietheater-Egomanen, dem sein Publikum schnuppe ist. Und das ärgert mich aus Prinzip. Bestimmt gibt es weltweit provozierendere Inszenierungen als die von Stefan Herheim, unter Garantie steckt hinter der verwirrenden Umsetzung ein durchdachtes, intelligentes Konzept und vielleicht hätte der zweite Teil Aufschluss und Erleuchtung gegeben.
Im wunderschönen Foyer der Osloer Oper frage ich mich allerdings nur, wie viel Herheim während der Vorbereitung seines Konzepts wohl getrunken hat und ob ich es ihm einfach gleichtun sollte. Da das aufgrund meiner existierenden Hormonsituation erst im September wieder möglich sein wird, ich nüchtern aber den zweiten Teil nicht überstehen werde, entscheiden wir uns zum einzig möglichen Schritt und gehen.
Heute morgen lese ich dann ein zweiseitiges Interview mit Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach, der in langen Sätzen das Konzept der La Bohème-Inszenierung erläutert. Vom Publikum wünsche er sich: „Wir wollen in einer konstruktiven Weise irritieren, so dass die Zuschauer sich Gedanken machen und hoffentlich begreifen, dass nichts per Zufall geschieht sondern aufgrund eines intelligenten Konzepts.“
Niemann, Sechs, Setzen.
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Das war es für heute, meine lieben Leser. Die Osloaner fordere ich auf, sich das Stück selbst anzusehen, alle anderen können sich hier einen Eindruck verschaffen. Ich freue mich auf Eure Kommentare. Nächste Woche berichte ich an selber Stelle über die Begeisterung der Norweger, in Schweden einkaufen zu gehen. Auch wir schließen uns morgen an und fahren ins Nordby-Shoppingcenter kurz hinter der schwedischen Grenze.
Euch allen wünsche ich eine wunderschöne Woche, seid tolerant, aber lasst Euch nicht alles gefallen und feiert, wenn es denn sein muss, einen verrückten Karneval. 🙂 Mir selber und meinen ebenfalls gestressten Nachbarn wünsche ich, dass alle presslufthammerbohrenden Bauarbeiter der Baustelle gegenüber einer harmlosen, aber arbeitsunfähigmachenden Wintergrippe zum Opfer fallen. Es lebe das Adjektiv.
Ha det bra,
Ulrike